0.193.411.63

BS 11 327; BB1 1924 III 700

Originaltext

Vergleichsvertrag
zwischen der Schweiz und Österreich1

Abgeschlossen am 11 Oktober 1924
Von der Bundesversammlung genehmigt am 17. Dezember 19242
Ratifikationsurkunden ausgetauscht am 1. Mai 1925
In Kraft getreten am 1. Mai 1925

(Stand am 1. Mai 1927)

1 Die Weitergeltung dieses Vertrages und des Schlussprotokolls ist festgestellt worden durch Bst. C Ziff. 2 des Notenaustausches vom 7. Juli 1948/ 11. Okt. 1949 (SR 0.196.116.32).

2 AS 41 278

Der Schweizerische Bundesrat
und
der Bundespräsident der Republik Österreich,

von dem Wunsche geleitet, die zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Österreich bestehenden freundschaftlichen Beziehungen zu festigen und das ihre dazu beizutragen, im Dienste des Friedensgedankens das Vergleichsverfahren zur Schlichtung zwischenstaatlicher Streitigkeiten zu fördern,

haben beschlossen, zu diesem Zwecke einen Vertrag abzuschliessen, und haben zu ihren Bevollmächtigten ernannt:

(Es folgen die Namen der Bevollmächtigten)

die, nachdem sie sich ihre Vollmachten mitgeteilt und sie in guter und gehöriger Form befunden haben,

über folgende Bestimmungen übereingekommen sind:

Art. 1

Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, alle Streitigkeiten irgendwelcher Art, die zwischen ihnen entstehen und nicht auf diplomatischem Wege geschlichtet werden können, vorgängig jedem Verfahren vor einem zwischenstaatlichen Gerichte oder Schiedsgerichte dem in den folgenden Artikeln geregelten Vergleichsverfahren zu unterwerfen, sofern nicht gemäss Artikel 36 des Statutes des Ständigen Inter­nationalen Gerichtshofes3 die Zuständigkeit dieses Gerichtshofes zur Entscheidung des Streitfalles gegeben ist.

Es steht jeder Partei zu, darüber zu befinden, von welchem Zeitpunkte an das Vergleichsverfahren an die Stelle der diplomatischen Verhandlungen zu treten hat.

3 [AS 37 7681. Diesem Artikel entspricht heute Art. 36 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes vom 26. Juni 1945 (SR 0.193.501).

Art. 2

Auch wenn, gemäss Artikel 36 des Statutes des Ständigen Internationalen Gerichtshofes4, die Zuständigkeit dieses Gerichtshofes zur Entscheidung eines Streitfalles gegeben ist, bleibt es den vertragschliessenden Teilen unbenommen, im gemein­samen Einvernehmen den Streitfall zuvor dem Vergleichsverfahren zu unterwerfen.

4 Siehe Fussn. zu Art. 1.

Art. 3

Die vertragschliessenden Teile bilden für das Vergleichsverfahren einen ständigen Vergleichsrat von drei Mitgliedern.

Sie ernennen, jeder für sich, nach freier Wahl je ein Mitglied und berufen den Vorsitzenden im gemeinsamen Einverständnis.

Der Vorsitzende soll nicht Angehöriger eines der vertragschliessenden Staaten sein, noch soll er auf deren Gebiet seinen Wohnsitz haben oder in deren Diensten stehen.

Der Vergleichsrat wird im Laufe von sechs Monaten nach Austausch der Ratifikationsurkunden des vorliegenden Vertrages gebildet.

Jedem vertragschliessenden Teile steht das Recht zu, sofern nicht ein Verfahren im Gange ist, das von ihm ernannte Mitglied abzuberufen und dessen Nachfolger zu bezeichnen sowie die Zustimmung zur Berufung des Vorsitzenden zurückzuziehen. In diesem Falle muss unverzüglich zur Ersetzung der ausscheidenden Mitglieder geschritten werden.

Ausscheidende Mitglieder werden gemäss dem für die erstmalige Wahl massgebenden Verfahren ersetzt.

Wenn die Berufung des Vorsitzenden nicht innerhalb von sechs Monaten nach dem Austausche der Ratifikationsurkunden oder, im Falle einer Ergänzungswahl, nicht innerhalb von drei Monaten nach Ausscheiden des Mitgliedes stattgefunden hat, so erfolgen die Wahlen gemäss den Bestimmungen des Artikels 45 des Haager Abkommens vom 18. Oktober 19075 zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle.

Während der tatsächlichen Dauer des Verfahrens erhält der Vorsitzende des Vergleichsrates eine Entschädigung, deren Höhe von den vertragschliessenden Teilen zu vereinbaren und die von ihnen zu gleichen Teilen zu tragen ist.

Dagegen bestimmt und übernimmt jede Partei selbst die Entschädigung des von ihr ernannten Mitgliedes des Vergleichsrates.

Art. 4

Die Anrufung des ständigen Vergleichsrates erfolgt durch ein dahinzielendes Begehren, das von der einen Partei an den Vorsitzenden gerichtet wird.

Dieses Begehren wird von der Partei, welche die Eröffnung des Vergleichsverfahrens verlangt, gleichzeitig der andern Partei zur Kenntnis gebracht.

Art. 5

Unter Vorbehalt anderweitiger Vereinbarung tritt der ständige Vergleichsrat an dem vom Vorsitzenden bezeichneten Orte zusammen.

Art. 6

Der ständige Vergleichsrat hat die Aufgabe, die Schlichtung der Streitigkeit zu erleichtern, indem er in unparteiischer und gewissenhafter Prüfung den Sachverhalt untersucht und Vorschläge für die Beilegung der Streitigkeit macht.

Der Bericht des ständigen Vergleichsrates ist innerhalb von sechs Monaten von dem Tage an zu erstatten, an dem ihm die Streitigkeit unterbreitet worden ist, es sei denn, dass die vertragschliessenden Parteien diese Frist im gemeinsamen Einverständnisse verkürzen oder verlängern. Jeder Partei wird eine Ausfertigung des Berichtes ausgehändigt.

Der Bericht hat weder in bezug auf die Tatsachen noch hinsichtlich der rechtlichen Ausführungen die Bedeutung einer bindenden Entscheidung.

Art. 7

Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, die Arbeiten des ständigen Vergleichsrates nach bestem Wissen und Vermögen zu fördern und insbesondere alle nach ihrer Gesetzgebung ihnen zur Verfügung stehenden Mittel anzuwenden, um es dem Vergleichsrate zu ermöglichen, auf ihrem Gebiete Zeugen und Sachverständige vorzuladen und zu vernehmen sowie Augenscheine durchzuführen.

Art. 8

Unter Vorbehalt anderweitiger Vereinbarung ist für das Vergleichsverfahren das Haager Abkommen vom 18. Oktober 19076 zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle massgebend.

Art. 9

Der ständige Vergleichsrat setzt die Frist fest, innerhalb deren die Parteien zu seinem Vorschlage Stellung zu nehmen haben. Diese Frist darf indessen die Zeit von drei Monaten nicht überschreiten.

Art. 10

Jede Partei kommt für ihre eigenen Kosten auf. Die Kosten für das Vergleichsverfahren werden von den Parteien zu gleichen Teilen getragen.

Art. 11

Während der Dauer des Vergleichsverfahrens enthalten sich die vertragschliessenden Teile jeder Massnahme, die auf die Annahme der Vorschläge des ständigen Vergleichsrates nachteilig zurückwirken könnte.

Art. 12

Der vorliegende Vertrag soll ratifiziert werden. Die Ratifikationsurkunden sollen sobald als möglich in Bern ausgetauscht werden.

Der Vertrag gilt für die Dauer von zehn Jahren, gerechnet vom Austausche der Ratifikationsurkunden an. Wird er nicht sechs Monate vor Ablauf dieses Zeitraumes gekündigt, so bleibt er für einen weitern Zeitraum von fünf Jahren in Kraft und so fort für je einen Zeitraum von fünf Jahren.

Unterschriften

Zu Urkund dessen haben die Bevollmächtigten den gegenwärtigen Vertrag unterzeichnet und ihm ihre Siegel beigedrückt.

Ausgefertigt, in doppelter Urschrift, zu Wien, am elften Oktober 1924.

C.D. Bourcart A. Grünberger

Schlussprotokoll


Die zu diesem Zwecke gehörig bevollmächtigten Unterzeichneten erklären in dem Augenblicke, wo sie zur Unterzeichnung des am heutigen Tage abgeschlossenen Vergleichsvertrages schreiten, dass darüber Einverständnis besteht, dass die vertragschliessenden Teile unter sich bis zum Ablaufe des Vergleichsvertrages durch die Bestimmungen des Artikels 36 des Statutes des Ständigen Internationalen Gerichtshofes7 gebunden bleiben, auch für den Fall, dass die Verpflichtung, die sie durch den Beitritt zur fakultativen Bestimmung des genannten Statutes übernommen haben, in der Zwischenzeit für einen von ihnen zu gelten aufhören sollte.

Wien, am 11. Oktober 1924.

C.D. Bourcart A. Grünberger

7 Siehe Fussn. zu Art. 1 des Vertrages.