0.344.198
AS 2022 716
Übersetzung
Vertrag
zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft
und der Föderativen Republik Brasilien
über die Überstellung verurteilter Personen
Abgeschlossen am 23. November 2015
In Kraft getreten durch Notenaustausch am 1. Januar 2023
(Stand am 1. Januar 2023)
Die schweizerische Eidgenossenschaft
und
die Föderative Republik Brasilien,
nachstehend als «die Parteien» bezeichnet,
in dem Wunsch, die freundschaftlichen Beziehungen zu pflegen und die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, namentlich bei der Überstellung verurteilter Personen, zu fördern;
in der Erwägung, dass diese Zusammenarbeit den Interessen der Rechtspflege dienen und die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen fördern soll;
in der Erwägung, dass es diese Ziele erfordern, Ausländerinnen und Ausländern, denen wegen der Begehung einer Straftat ihre Freiheit entzogen ist, Gelegenheit zu geben, die gegen sie verhängte Sanktion in ihrer Heimat zu verbüssen;
in der Erwägung, dass dieses Ziel am besten durch deren Überstellung in ihren Heimatstaat erreicht werden kann,
sind wie folgt übereingekommen:
Im Sinne dieses Vertrages bezeichnet der Ausdruck:
- a)
- «Sanktion» jede freiheitsentziehende Strafe oder Massnahme, die von einem Gericht nach dessen innerstaatlichem Recht wegen einer Straftat für eine bestimmte Zeit oder auf unbestimmte Zeit verhängt worden ist;
- b)
- «Urteil» eine Entscheidung eines Gerichts, durch die eine Sanktion verhängt wird;
- c)
- «Urteilsstaat» den Staat, in dem die Sanktion gegen die Person, die überstellt werden kann oder bereits überstellt worden ist, verhängt worden ist;
- d)
- «Vollstreckungsstaat» den Staat, in den die verurteilte Person zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion überstellt werden kann oder bereits überstellt worden ist.
1 Die Vertragsparteien verpflichten sich, gemäss den Bedingungen dieses Vertrages im Bereich der Überstellung verurteilter Personen so weit wie möglich zusammenzuarbeiten.
2 Eine im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei verurteilte Person kann nach diesem Vertrag zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei überstellt werden. Zu diesem Zweck kann sie dem Urteils- oder dem Vollstreckungsstaat gegenüber den Wunsch äussern, nach diesem Vertrag überstellt zu werden.
3 Das Überstellungsersuchen kann entweder vom Urteils- oder vom Vollstreckungsstaat gestellt werden.
In der Erwägung, dass die Parteien verpflichtet sind, die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern, wenden sie diesen Vertrag so an, dass sie die Verpflichtungen in den internationalen Instrumenten zum Schutz der Menschenrechte, denen sie angehören, wahren, insbesondere jene im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte1 sowie jene im Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe2 und jene in dessen Fakultativprotokoll3.
1 Im Sinne dieses Vertrags ist in der Schweiz das Bundesamt für Justiz des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes und in Brasilien das Justizministerium Zentralbehörde; über diese Zentralbehörden werden die Überstellungsersuchen und die Antworten übermittelt und entgegengenommen.
2 Die Zentralbehörden der beiden Parteien verkehren direkt miteinander. Der diplomatische Weg bleibt bei Bedarf vorbehalten.
1 Eine verurteilte Person kann nach diesem Vertrag nur unter den folgenden Voraussetzungen überstellt werden:
- a)
- Sie ist Staatsangehörige des Vollstreckungsstaates.
- b)
- Das Urteil ist rechtskräftig und im Urteilsstaat ist kein sonstiges Strafverfahren hängig.
- c)
- Beim Eingang des Überstellungsersuchens sind noch mindestens zwölf (12) Monate der gegen die verurteilte Person verhängten Sanktion zu vollziehen oder die Sanktion ist von unbestimmter Dauer.
- d)
- Die verurteilte Person oder, sofern einer der beiden Staaten dies in Anbetracht ihres Alters oder ihres körperlichen oder geistigen Zustands für notwendig hält, ihre gesetzliche Vertreterin oder ihr gesetzlicher Vertreter stimmt ihrer Überstellung zu.
- e)
- Die Handlungen oder Unterlassungen, derentwegen die Sanktion verhängt worden ist, stellen nach dem Recht des Vollstreckungsstaates eine strafbare Handlung dar oder, würden, wären sie in seinem Hoheitsgebiet begangen worden, eine solche darstellen.
- f)
- Der Urteils- und der Vollstreckungsstaat haben sich auf die Überstellung geeinigt.
2 In Ausnahmefällen können sich die Vertragsparteien auch dann auf eine Überstellung einigen, wenn die Restdauer der gegen die verurteilte Person verhängten Sanktion kürzer ist als in Absatz 1 Buchstabe c vorgesehen.
1 Jede verurteilte Person, auf die dieser Vertrag Anwendung finden kann, wird durch den Urteilsstaat von dessen wesentlichem Inhalt unterrichtet.
2 Hat die verurteilte Person dem Urteilsstaat gegenüber den Wunsch geäussert, nach diesem Vertrag überstellt zu werden, so teilt der Urteilsstaat dies dem Vollstreckungsstaat so bald wie möglich nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils mit.
3 Diese Mitteilung enthält:
- a)
- Name, Geburtstag und Geburtsort der verurteilten Person;
- b)
- gegebenenfalls ihre Adresse im Vollstreckungsstaat;
- c)
- eine Darstellung des Sachverhalts, welcher der Sanktion zugrunde liegt;
- d)
- Art und Dauer der Sanktion sowie Beginn ihres Vollzugs.
4 Hat die verurteilte Person dem Vollstreckungsstaat gegenüber den Wunsch geäussert, nach diesem Vertrag überstellt zu werden, so übermittelt der Urteilsstaat dem Vollstreckungsstaat auf dessen Ersuchen hin die in Absatz 3 bezeichnete Mitteilung.
5 Die verurteilte Person wird schriftlich unterrichtet von dem durch den Urteils- oder den Vollstreckungsstaat aufgrund der vorstehenden Absätze Veranlassten sowie von jeder Entscheidung, die einer der beiden Staaten aufgrund eines Überstellungsersuchens getroffen hat.
1 Die Überstellungsersuchen und die Antworten bedürfen der Schriftform.
2 Diese Ersuchen werden unmittelbar von einer Zentralbehörde an die andere gerichtet und die Antworten werden auf demselben Weg übermittelt. Der diplomatische Weg bleibt bei Bedarf vorbehalten.
3 Der ersuchte Staat unterrichtet den ersuchenden Staat umgehend über seine Entscheidung, dem Überstellungsersuchen stattzugeben oder es abzulehnen.
1 Auf Ersuchen des Urteilsstaates stellt ihm der Vollstreckungsstaat folgende Unterlagen zur Verfügung:
- a)
- ein Schriftstück oder eine Erklärung, woraus hervorgeht, dass die verurteilte Person Staatsangehörige des Vollstreckungsstaates ist;
- b)
- eine Kopie der Rechtsvorschriften des Vollstreckungsstaates, aus denen hervorgeht, dass die Handlungen oder Unterlassungen, derentwegen die Sanktion im Urteilsstaat verhängt worden ist, nach dem Recht des Vollstreckungsstaats eine strafbare Handlung darstellen oder eine solche darstellen würden, wären sie in dessen Hoheitsgebiet begangen worden.
2 Wird um Überstellung ersucht, so stellt der Urteilsstaat dem Vollstreckungsstaat folgende Unterlagen zur Verfügung, sofern nicht einer der beiden Staaten bereits bekannt gegeben hat, dass er dem Ersuchen nicht stattgeben wird:
- a)
- eine Kopie des Urteils und der angewendeten Rechtsvorschriften;
- b)
- eine Erklärung, aus der hervorgeht, welcher Teil der Sanktion bereits vollzogen wurde, einschliesslich einer Mitteilung über Untersuchungshaft, Strafermässigung und alle weiteren für den Vollzug der Sanktion wesentlichen Umstände, sowie einen Bericht über die Führung der verurteilten Person;
- c)
- eine Erklärung, welche die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe d bezeichnete Zustimmung zur Überstellung enthält;
- d)
- gegebenenfalls Berichte von Ärztinnen, Ärzten, Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeitern über die verurteilte Person, Mitteilungen über ihre Behandlung im Urteilsstaat und Empfehlungen für ihre weitere Behandlung im Vollstreckungsstaat.
3 Jeder der beiden Staaten kann um die Übermittlung der in den Absätzen 1 und 2 bezeichneten Unterlagen oder Erklärungen ersuchen, bevor er um Überstellung ersucht oder eine Entscheidung darüber trifft, ob er dem Überstellungsersuchen stattgibt oder es ablehnt.
1 Der Urteilsstaat gewährleistet, dass die Person, die nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe d der Überstellung zuzustimmen hat, ihre Zustimmung freiwillig und im vollen Bewusstsein der rechtlichen Folgen gibt. Das Verfahren für diese Zustimmung richtet sich nach dem Recht des Urteilsstaates.
2 Der Urteilsstaat gibt dem Vollstreckungsstaat Gelegenheit, sich durch eine Konsulin oder einen Konsul oder eine andere Beamtin oder einen anderen Beamten die oder der im Einvernehmen mit dem Vollstreckungsstaat bezeichnet wurde, überprüfen zu lassen, ob die Zustimmung unter den im vorstehenden Absatz dargelegten Bedingungen erfolgte.
1 Durch die Übernahme der verurteilten Person durch die Behörden des Vollstreckungsstaates wird der Vollzug der Sanktion im Urteilsstaat ausgesetzt. Entzieht sich die verurteilte Person nach der Überstellung dem Vollzug, so fällt dem Urteilsstaat wieder das Recht zu, die verbleibende Strafe, die sie im Vollstreckungsstaat hätte verbüssen sollen, zu vollziehen.
2 Der Urteilsstaat darf die Sanktion nicht weiter vollziehen, wenn der Vollstreckungsstaat den Vollzug der Sanktion für abgeschlossen erachtet.
1 Die vom Urteilsstaat verhängte Sanktion wird im Vollstreckungsstaat direkt vollzogen.
2 Der Vollstreckungsstaat ist an die Sachverhaltsdarstellungen sowie an die rechtliche Art und die Dauer der vom Urteilsstaat verhängten Sanktion gebunden.
3 Ist die Art oder die Dauer dieser Sanktion jedoch nicht mit dem Recht des Vollstreckungsstaates vereinbar oder schreibt dessen Recht dies vor, so kann dieser Staat die Sanktion durch eine Entscheidung der zuständigen Behörde an die nach seinem eigenen Recht für eine Straftat derselben Art vorgesehene Strafe oder Massnahme anpassen. Diese Strafe oder Massnahme muss ihrer Art nach soweit wie möglich der Sanktion entsprechen, die durch die zu vollstreckende Entscheidung verhängt worden ist. Sie darf die Art oder die Dauer der im Urteilsstaat verhängten Sanktion nicht verschärfen und das nach dem Recht des Vollstreckungsstaates vorgesehene Höchstmass nicht überschreiten.
4 Der Vollzug der Sanktion im Vollstreckungsstaat richtet sich nach dessen Recht. Er allein entscheidet über die Modalitäten des Sanktionenvollzugs, einschliesslich der Dauer der Inhaftierung der verurteilten Person.
1 Wird die verurteilte Person zum Vollzug einer freiheitsentziehenden Strafe oder Massnahme nach diesem Vertrag überstellt, so darf sie im Vollstreckungsstaat nicht wegen derselben Tat, derentwegen die freiheitsentziehende Strafe oder Massnahme vom Urteilsstaat verhängt worden ist, verfolgt oder verurteilt werden.
2 Die überstellte Person kann indessen im Vollstreckungsstaat für andere Handlungen als diejenigen, die zur Sanktion im Urteilsstaat geführt haben, in Haft gehalten, ins Recht gefasst und verurteilt werden, sofern diese Handlungen gemäss dem Recht des Vollstreckungsstaates mit Strafe bedroht sind.
Die Übergabe der verurteilten Person durch die Behörden des Urteilsstaates an diejenigen des Vollstreckungsstaates findet am von den Parteien bezeichneten Ort statt.
1 Eine Begnadigung, Amnestie oder gnadenweise Abänderung der Sanktion kann im Einklang mit der Verfassung oder anderen Rechtsvorschriften der beiden Staaten gewährt werden.
2 Der Vollstreckungsstaat kann eine Begnadigung, Amnestie oder gnadenweise Abänderung nach seinem innerstaatlichen Recht jedoch nur mit der Zustimmung des Urteilsstaates gewähren.
Der Urteilsstaat allein hat das Recht, über einen gegen das Urteil gerichteten Wiederaufnahmeantrag zu entscheiden.
1 Der Urteilsstaat unterrichtet den Vollstreckungsstaat über jede Änderung der Sanktion zugunsten der überstellten verurteilten Person.
2 Der Vollstreckungsstaat beendet den Vollzug der Sanktion, sobald ihn der Urteilsstaat über eine Entscheidung oder Massnahme in Kenntnis gesetzt hat, aufgrund derer ihre Vollstreckbarkeit erlischt.
Der Vollstreckungsstaat unterrichtet den Urteilsstaat über den Vollzug der Sanktion:
- a)
- wenn er den Vollzug dieser Sanktion für abgeschlossen erachtet;
- b)
- wenn die verurteilte Person vor Abschluss des Vollzugs dieser Sanktion aus der Haft flieht; oder
- c)
- wenn der Urteilsstaat um einen besonderen Bericht ersucht.
1 Schliesst eine der Vertragsparteien mit Drittstaaten Vereinbarungen über die Überstellung von verurteilten Personen ab, so hat die andere Partei die Durchlieferung dieser nach diesen Vereinbarungen überstellten Personen durch ihr Hoheitsgebiet zu erleichtern.
2 Eine Vertragspartei kann die Durchlieferung verweigern, wenn es sich bei der verurteilten Person um eine ihrer Staatsangehörigen handelt oder wenn die Tat, derentwegen die Sanktion verhängt worden ist, nach ihrem Recht keine Straftat darstellt.
3 Die Partei, welche die Überstellung beabsichtigt, muss die andere Partei vorgängig darüber unterrichten.
4 Die um die Durchlieferung ersuchte Partei darf die verurteilte Person nur so lange in Haft behalten, wie für die Durchlieferung durch ihr Hoheitsgebiet unbedingt erforderlich ist.
1 Die Überstellungsersuchen und ihre Beilagen werden in der Sprache des ersuchenden Staates abgefasst und von einer Übersetzung in eine im Einzelfall von der Zentralbehörde bezeichnete Sprache des ersuchten Staates begleitet.
2 Die Übersetzung der Schriftstücke, die bei der Ausführung des Ersuchens erstellt oder erhoben werden, obliegt dem ersuchenden Staat.
Das Überstellungsersuchen und die diesbezüglichen Unterlagen, die von einer Partei nach diesem Vertrag übermittelt werden, sind vom Formerfordernis der Beglaubigung sowie von jeglichen weiteren Formerfordernissen befreit.
1 Der Vollstreckungsstaat gewährleistet das Geleit für die Überstellung.
2 Die Kosten für die Überstellung, einschliesslich derjenigen für das Geleit, werden vom Vollstreckungsstaat getragen, sofern sich die beiden Staaten nicht anderweitig einigen.
3 Die Kosten, die ausschliesslich im Hoheitsgebiet des Urteilsstaats entstehen, gehen zu dessen Lasten.
4 Der Vollstreckungsstaat kann die Überstellungskosten ganz oder teilweise der verurteilten Person auferlegen.
Beide Vertragsparteien tauschen auf Ersuchen einer Partei ihre Meinungen über die Auslegung, Anwendung oder Umsetzung des vorliegenden Vertrags im Allgemeinen oder in Bezug auf einen Einzelfall schriftlich aus oder treffen sich zu einem mündlichen Meinungsaustausch.
Dieser Vertrag gilt für den Vollzug von Sanktionen, die vor oder nach seinem Inkrafttreten verhängt worden sind.
Dieser Vertrag berührt nicht die Rechte und Pflichten aus Auslieferungsverträgen und aus anderen Verträgen über die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen, welche die Überstellung verhafteter Personen zum Zweck der Gegenüberstellung oder der Zeugenaussage vorsehen.
1 Dieser Vertrag tritt am ersten Tag des zweiten Monats nach der letzten Notifikation, wonach die gemäss Verfassung erforderlichen Verfahren in jedem der beiden Staaten abgeschlossen sind, in Kraft.
2 Dieser Vertrag wird auf unbestimmte Zeit abgeschlossen.
1 Jede Partei kann diesen Vertrag jederzeit durch schriftliche Notifikation an die andere Partei kündigen. Die Kündigung wird sechs Monate nach Eingang der Notifikation wirksam.
2 Dieser Vertrag bleibt jedoch anwendbar auf den Vollzug von Sanktionen gegen Personen, die gemäss diesem Vertrag vor dem Tag, an dem die Kündigung wirksam wird, überstellt worden sind.
Zu Urkund dessen haben die von ihren jeweiligen Regierungen gehörig Bevollmächtigten diesen Vertrag unterzeichnet.
So geschehen in Brasilia, am 23. November 2015 im Doppel in französischer und portugiesischer Sprache, wobei beide Fassungen gleichermassen verbindlich sind.
Für die Schweizerische Eidgenossenschaft: André Regli | Für die Föderative Republik Brasilien: Mauro Vieira |