0.102.1

 AS 2017 4843; BBl 2017 6969

Übersetzung

Zusatzprotokoll
zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung über das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten der kommunalen Gebietskörperschaften

Abgeschlossen in Utrecht, am 16. November 2009

Von der Bundesversammlung genehmigt am 17. März 20171

Schweizerische Ratifikationsurkunde hinterlegt am 18. Juli 2017

In Kraft getreten für die Schweiz am 1. November 2017

(Stand am 29. Juni 2020)

Präambel

Die Mitgliedstaaten des Europarats, die dieses Zusatzprotokoll zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (im Folgenden als «Charta» bezeichnet2) unterzeichnen,

in der Erwägung, dass es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, um die Ideale und die Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, zu wahren und zu fördern;

in der Erwägung, dass das Recht auf Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten einer der demokratischen Grundsätze ist, die allen Mitgliedstaaten des Europarats gemeinsam sind;

in der Erwägung, dass die Entwicklung in den Mitgliedstaaten die überragende Bedeutung dieses Grundsatzes für die kommunale Selbstverwaltung gezeigt hat;

in der Erwägung, dass es sinnvoll wäre, die Charta um Bestimmungen zu bereichern, die das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten der kommunalen Gebiets­körperschaften garantieren;

unter Berücksichtigung des vom Ministerkomitee am 27. November 20083 angenommenen Übereinkommens des Europarats über den Zugang zu amtlichen Dokumenten;

unter Berücksichtigung der Erklärung und des Aktionsplans, die auf dem Dritten Gipfel der Staats- und Regierungschefs des Europarats (Warschau, 16. und 17. Mai 2005) angenommen wurden,

sind wie folgt übereingekommen:

2 SEV Nr. 122; SR 0.102

3 SEV Nr. 205

Art. 1 Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten einer kommunalen Gebietskörperschaft

1.  Die Vertragsparteien garantieren jedem in ihrem Zuständigkeitsbereich das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten einer kommunalen Gebietskörperschaft.

2.  Das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten einer kommunalen Gebietskörperschaft ist das Recht, Anstrengungen zu unternehmen, um die Ausübung der Zuständigkeiten einer kommunalen Gebietskörperschaft zu bestimmen oder zu beeinflussen.

3.  Das Gesetz legt die Mittel zur Erleichterung der Ausübung dieses Rechts fest. Es kann für bestimmte Umstände oder Kategorien von Personen besondere Massnahmen vorsehen, sofern dadurch nicht bestimmte Personen oder Gruppen ungerechtfertigt diskriminiert werden. Im Einklang mit den verfassungs- und völkerrecht­lichen Verpflichtungen des betreffenden Vertragsstaates kann das Gesetz namentlich besondere Massnahmen vorsehen, die ausdrücklich auf Wahlberechtigte begrenzt sind.

4.1  Jede Vertragspartei erkennt durch Gesetz das Recht ihrer Staatsangehörigen an, bei der Wahl der Mitglieder des Rates oder der Versammlung der kommunalen Gebietskörperschaft, in der sie ihren Aufenthalt haben, als Wähler oder als Kandidaten mitzuwirken.

4.2  Das Gesetz anerkennt zudem das Recht sonstiger Personen auf eine derartige Mitwirkung in Fällen, in denen die Vertragspartei dies im Einklang mit ihrer eigenen verfassungsmässigen Ordnung beschliesst oder dies den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei entspricht.

5.1  Formalitäten, Voraussetzungen oder Einschränkungen bezüglich der Ausübung des Rechts auf Mitwirkung an den Angelegenheiten einer kommunalen Gebietskörperschaft müssen durch Gesetz vorgeschrieben und mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei vereinbar sein.

5.2  Das Gesetz schreibt diejenigen Formalitäten, Voraussetzungen und Einschränkungen vor, die notwendig sind, um sicherzustellen, dass durch die Ausübung des Rechts auf Mitwirkung die ethische Integrität und die Transparenz bei der Ausübung von Zuständigkeiten der kommunalen Gebietskörperschaften nicht gefährdet werden.

5.3  Sonstige Formalitäten, Voraussetzungen oder Einschränkungen müssen für das Funktionieren eines wirklich demokratischen politischen Systems, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft oder für die Einhaltung von Erfordernissen der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei notwendig sein.

Art. 2 Massnahmen zur Umsetzung des Mitwirkungsrechts

1.  Die Vertragsparteien ergreifen alle notwendigen Massnahmen zur Verwirk­lichung des Rechts auf Mitwirkung an den Angelegenheiten kommunaler Gebiets­körperschaften.

2.  Diese Massnahmen betreffend die Ausübung des Rechts auf Mitwirkung umfassen Folgendes:

i)
kommunale Gebietskörperschaften ermächtigen, die Ausübung des in diesem Protokoll niedergelegten Rechts auf Mitwirkung zu ermöglichen, zu fördern und zu erleichtern;
ii)
sicherstellen, dass Folgendes festgelegt wird:
a)
Verfahren zur Beteiligung der Bevölkerung; hierzu können gehören: Anhörungsverfahren, kommunale Volksentscheide und Petitionen sowie in Fällen, in denen die kommunale Gebietskörperschaft sehr viele Einwohnerinnen und Einwohner hat oder ein grosses geografisches Gebiet abdeckt, Massnahmen zur bürgernahen Beteiligung der Bevölkerung,
b)
Verfahren, die in Übereinstimmung mit der verfassungsmässigen Ordnung und den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen, für den Zugang zu amtlichen Dokumenten, die sich im Besitz kommunaler Gebietskörperschaften befinden,
c)
Massnahmen, mit denen den Bedürfnissen von Kategorien von Personen entsprochen wird, die sich besonderen Hindernissen bei der Mitwirkung gegenübersehen, und
d)
Mechanismen und Verfahren für die Behandlung und Beantwortung von Beschwerden und Vorschlägen bezüglich der Arbeitsweise kommunaler Gebietskörperschaften und kommunaler öffentlicher Dienste;
iii)
die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Förderung und Ausübung des in diesem Protokoll niedergelegten Rechts auf Mitwirkung anregen.

3.  Die Verfahren, Massnahmen und Mechanismen können sich je nach Art der kommunalen Gebietskörperschaft unter Berücksichtigung ihrer Grösse und Kompetenzen voneinander unterscheiden.

4.  Bei den Planungs- und Entscheidungsprozessen in Bezug auf die zur Verwirk­lichung des Rechts auf Mitwirkung an den Angelegenheiten einer kommunalen Gebietskörperschaft zu treffenden Massnahmen werden die kommunalen Gebietskörperschaften so weit wie möglich, rechtzeitig und in geeigneter Weise konsultiert.

Art. 3 Gebietskörperschaften, auf die das Protokoll Anwendung findet

Dieses Protokoll gilt für alle Arten von kommunalen Gebietskörperschaften, die im Hoheitsgebiet der Vertragspartei bestehen. Jedoch kann jeder Staat bei der Hinterlegung seiner Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde die Arten von kommunalen oder regionalen Gebietskörperschaften bezeichnen, auf die er den Anwendungsbereich des Protokolls beschränken oder die er von dessen Anwendungsbereich ausschliessen will. Er kann ferner durch spätere Notifikation an den Generalsekretär des Europarats weitere Arten von kommunalen oder regionalen Gebietskörperschaften in den Anwendungsbereich des Protokolls einbeziehen.

Art. 4 Räumlicher Geltungsbereich

1.  Jeder Staat kann bei der Unterzeichnung oder bei der Hinterlegung seiner Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde die Hoheitsgebiete bezeichnen, auf die dieses Protokoll Anwendung findet.

2.  Jede Vertragspartei kann danach jederzeit durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Erklärung die Anwendung dieses Protokolls auf weitere in der Erklärung bezeichnete Hoheitsgebiete ausdehnen. Das Protokoll tritt für diese Hoheitsgebiete am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach Eingang der Erklärung beim Generalsekretär folgt.

3.  Jede nach Absatz 1 oder 2 abgegebene Erklärung kann in Bezug auf jedes darin bezeichnete Hoheitsgebiet durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Notifikation zurückgenommen werden. Die Rücknahme wird am ersten Tag des Monats wirksam, der auf einen Zeitabschnitt von sechs Monaten nach Eingang der Notifikation beim Generalsekretär folgt.

Art. 5 Unterzeichnung und Inkrafttreten

1.  Dieses Protokoll liegt für die Mitgliedstaaten des Europarats, die Unterzeichner der Charta sind, zur Unterzeichnung auf. Es bedarf der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung. Ein Mitgliedstaat des Europarats kann dieses Protokoll erst ratifizieren, annehmen oder genehmigen, wenn er vorher oder gleichzeitig die Charta ratifiziert, angenommen oder genehmigt hat. Die Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunden werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt.

2.  Dieses Protokoll tritt am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach dem Tag folgt, an dem acht Mitgliedstaaten des Europarats nach Absatz 1 ihre Zustimmung ausgedrückt haben, durch das Protokoll gebunden zu sein.

3.  Für jeden anderen Mitgliedstaat, der später seine Zustimmung ausdrückt, durch das Protokoll gebunden zu sein, tritt es am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach Hinterlegung der Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde folgt.

Art. 6 Kündigung

1.  Jede Vertragspartei kann dieses Protokoll jederzeit durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Notifikation kündigen.

2.  Die Kündigung wird am ersten Tag des Monats wirksam, der auf einen Zeit­abschnitt von sechs Monaten nach Eingang der Notifikation beim Generalsekretär folgt.

Art. 7 Notifikation

Der Generalsekretär des Europarats notifiziert den Mitgliedstaaten des Europarats:

a)
jede Unterzeichnung;
b)
jede Hinterlegung einer Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungs­urkunde;
c)
jeden Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls nach Artikel 5;
d)
jede nach Artikel 3 eingegangene Notifikation;
e)
jede andere Handlung, Notifikation oder Mitteilung im Zusammenhang mit diesem Protokoll.

Unterschriften

Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichnenden dieses Protokoll unterschrieben.

Geschehen zu Utrecht, am 16. November 2009 in französischer und englischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermassen verbindlich ist, in einer Urschrift, die im Archiv des Europarats hinterlegt wird. Der Generalsekretär des Europarats übermittelt allen Mitgliedstaaten des Europarats beglaubigte Abschriften.

(Es folgen die Unterschriften)

Geltungsbereich am 29. Juni 20204

4 AS 2017 4843, 2020 3319. Eine aktualisierte Fassung des Geltungsbereiches findet sich auf der Internetseite des EDA (www.eda.admin.ch/vertraege).


Vertragsstaaten

Ratifikation

Inkrafttreten

Armenien

13. Mai

2013

  1. September

2013

Bulgarien

14. März

2016

  1. Juli

2016

Estland

20. April

2011

  1. Juni

2012

Finnland

10. Februar

2012

  1. Juni

2012

Georgien*

27. November

2019

  1. März

2020

Island

22. Mai

2017

  1. September

2017

Litauen

26. Juli

2012

  1. November

2012

Malta

16. Januar

2018

  1. Mai

2018

Montenegro

  1. Oktober

2010

  1. Juni

2012

Niederlande a

13. Dezember

2010

  1. Juni

2012

Nordmazedonien

30. September

2015

  1. Januar

2016

Norwegen

16. Dezember

2009

  1. Juni

2012

    Svalbard

16. Dezember

2009

  1. Juni

2012

Schweden

  5. Mai

2010

  1. Juni

2012

Schweiz*

18. Juli

2017

  1. November

2017

Serbien

29. Juni

2018

  1. Oktober

2018

Slowenien*

  6. September

2011

  1. Juni

2012

Ukraine*

16. Dezember

2014

  1. April

2015

Ungarn

  7. Juni

2010

  1. Juni

2012

Zypern*

28. September

2012

  1. Januar

2013

*
Vorbehalte und Erklärungen.
Die Vorbehalte und Erklärungen werden in der AS nicht veröffentlicht, mit Ausnahme jener der Schweiz. Die französischen und englischen Texte können auf der Internetseite des Europarates: www.coe.int > Deutsch > Mehr > Vertragsbüro > Gesamtverzeichnis eingesehen oder bei der Direktion für Völkerrecht, Sektion Staatsverträge, 3003 Bern, bezogen werden.
a
Für das Königreich Europa.

Erklärungen

Schweiz5

Gemäss Artikel 3 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung über das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten der kommunalen Gebietskörperschaften erklärt die Schweiz, dass dieses Protokoll in der Schweiz für die Einwohnergemeinden («communes politiques»/«comuni politici») gilt.

5 Art. 1 Abs. 3 des BB vom 17. März 2017 (AS 2017 4841)