Art. 1 Gegenstand
Dieses Gesetz regelt:
- a.
- die Durchführung von Zeugenschutzprogrammen für Personen, welche aufgrund ihrer Mitwirkung in einem Strafverfahren gefährdet sind;
- b.
- die Errichtung der Zeugenschutzstelle des Bundes und deren Aufgaben.
312.2
vom 23. Dezember 2011 (Stand am 1. Juni 2022)
Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft,
gestützt auf die Artikel 38 Absatz 1, 54 Absatz 1, 57 Absatz 2, 122 Absatz 1
und 123 Absatz 1 der Bundesverfassung1,
nach Einsicht in die Botschaft des Bundesrates vom 17. November 20102,
beschliesst:
1 SR 101
Dieses Gesetz regelt:
1 Dieses Gesetz gilt für Personen:
2 Es gilt auch für Personen, die einer Person gemäss Absatz 1 in einem Verhältnis nach Artikel 168 Absätze 1–3 der Strafprozessordnung3 (StPO) nahestehen und deswegen einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben oder einem anderen schweren Nachteil ausgesetzt sind oder sein können.
3 Für Personen, für die ein Zeugenschutzprogramm eines ausländischen Staates oder eines internationalen Strafgerichts durchgeführt wird und die aus Sicherheitsgründen in die Schweiz verbracht werden, gilt das 2. Kapitel 4. und 5. Abschnitt dieses Gesetzes, soweit ein die Schweiz bindender völkerrechtlicher Vertrag keine abweichenden Bestimmungen enthält.
3 SR 312.0
Ein Zeugenschutzprogramm ist eine Gesamtheit von ausserprozessualen Zeugenschutzmassnahmen, die individuell zusammengestellt werden und mit denen eine Person vor jeder gefährlichen Auswirkung ihrer Mitwirkung in einem Strafverfahren, einschliesslich der Einschüchterung, geschützt werden soll.
Zeugenschutzprogramme nach diesem Gesetz haben zum Zweck:
Ein Zeugenschutzprogramm kann namentlich die folgenden ausserprozessualen Zeugenschutzmassnahmen umfassen:
1 Die zuständige Verfahrensleitung kann bei der Zeugenschutzstelle Antrag auf Durchführung eines Zeugenschutzprogramms stellen, wenn die zu schützende Person ihre Bereitschaft zur Mitwirkung im Strafverfahren geäussert hat.
2 Soll ein Antrag nach Beendigung des Strafverfahrens gestellt werden, so stellt ihn die für den verfahrensabschliessenden Entscheid zuständige Behörde.
3 Die antragstellende Behörde begründet den Antrag und äussert sich insbesondere zum Interesse der Öffentlichkeit an der Strafverfolgung, zur Bedeutung der Mitwirkung für das Strafverfahren und zur Gefährdungslage.
4 Der Antrag und der damit zusammenhängende Schriftverkehr sind nicht Bestandteil der Akten des Strafverfahrens.
5 Der Bundesrat regelt die Einzelheiten der Antragsstellung.
1 Die Zeugenschutzstelle führt ein umfassendes Prüfverfahren durch. Sie prüft insbesondere:
2 Sie informiert die zu schützende Person über:
3 Sie kann im Rahmen des Prüfverfahrens die notwendigen Sofortmassnahmen zugunsten der zu schützenden Person ergreifen.
4 SR 312.0
1 Die Direktorin oder der Direktor des Bundesamtes für Polizei (fedpol) entscheidet über die Durchführung eines Zeugenschutzprogramms auf Antrag der Zeugenschutzstelle.
2 Sie oder er berücksichtigt bei der Interessenabwägung insbesondere die Kriterien nach Artikel 7 Absatz 15.
3 Der Entscheid wird der zu schützenden Person und der antragstellenden Behörde schriftlich und begründet mitgeteilt.
4 Die zu schützende Person und die antragstellende Behörde sind berechtigt, gegen einen Entscheid Beschwerde zu führen.
5 Der Entscheid ist nicht Bestandteil der Akten des Strafverfahrens.
5 Berichtigt von der Redaktionskommission der BVers (Art. 58 Abs. 1 ParlG – SR 171.10).
1 Die Zeugenschutzstelle informiert die zu schützende Person über den Ablauf des Zeugenschutzprogramms, über ihre Rechte und Pflichten sowie über die Folgen bei deren Verletzung.
2 Das Zeugenschutzprogramm beginnt erst mit der schriftlichen Zustimmung der zu schützenden Person oder ihrer gesetzlichen Vertretung zu laufen.
1 Die Direktorin oder der Direktor von fedpol entscheidet über wesentliche Änderungen im Zeugenschutzprogramm, welche grundlegende Auswirkungen auf die persönliche Lebenssituation der zu schützenden Person haben.
2 Die zu schützende Person kann gegen den Entscheid Beschwerde führen. Im Übrigen richtet sich das Verfahren nach Artikel 8 Absätze 3 und 4.
1 Die Direktorin oder der Direktor von fedpol kann das Zeugenschutzprogramm auf Antrag der Zeugenschutzstelle beenden, wenn die zu schützende Person:
2 Bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens kann das Zeugenschutzprogramm nur nach Rücksprache mit der zuständigen Verfahrensleitung beendet werden. Ist das Verfahren beim Gericht hängig, so ist zusätzlich mit der Staatsanwaltschaft Rücksprache zu nehmen.
3 Die Direktorin oder der Direktor von fedpol muss das Zeugenschutzprogramm in jedem Fall beenden, wenn die zu schützende Person dies ausdrücklich wünscht.
4 Der Bundesrat regelt die Beendigung des Zeugenschutzprogramms.
Das Zeugenschutzprogramm wird über den Abschluss des Strafverfahrens durch rechtskräftiges Urteil oder Einstellungsverfügung hinaus fortgeführt, wenn die Gefährdung fortbesteht und die Zustimmung der zu schützenden Person zur Mitwirkung im Zeugenschutzprogramm weiterhin vorliegt.
1 Die zu schützende Person hat der Zeugenschutzstelle ihr bekannte Ansprüche Dritter gegen sie offenzulegen.
2 Die Zeugenschutzstelle stellt sicher, dass:
3 Sie setzt Dritte über die Durchführung eines Zeugenschutzprogramms in Kenntnis, falls es zur Sicherung von deren Ansprüchen gegenüber der zu schützenden Person unerlässlich ist. Sie bestätigt ihnen gegenüber Tatsachen, die zur Entscheidung über den Anspruch von Bedeutung sind.
1 Ansprüche der zu schützenden Person gegenüber Dritten werden durch Massnahmen nach diesem Gesetz nicht berührt.
2 Die Zeugenschutzstelle setzt Dritte über die Durchführung eines Zeugenschutzprogramms in Kenntnis, soweit dies zur Sicherung von Ansprüchen der zu schützenden Person gegenüber diesen Dritten unerlässlich ist. Sie bestätigt ihnen gegenüber Tatsachen, die zur Entscheidung über den Anspruch von Bedeutung sind.
1 Die zu schützende Person erhält von der Zeugenschutzstelle im Rahmen des Zeugenschutzprogramms finanzielle Leistungen so lange und in dem Umfang, als dies zum Zwecke des Schutzes und für die Kosten der Lebenshaltung erforderlich ist.
2 Für die Kosten der Lebenshaltung wird ein den wirtschaftlichen Verhältnissen angemessener Beitrag geleistet. Dabei werden das bisherige rechtmässige Einkommen und Vermögen, die familiären Verhältnisse, die Unterhalts- und Unterstützungspflichten und die Sicherheitsbedürfnisse berücksichtigt. Als untere Grenze gelten die Ansätze der Sozialhilfe des Aufenthaltsortes.
3 Die Zeugenschutzstelle kann die Leistungen zurückfordern, wenn sie aufgrund wissentlich falscher Angaben gewährt worden sind.
2 Anstelle des Wohn- oder Aufenthaltsorts ist die Zeugenschutzstelle zu benennen.
3 In Strafverfahren richtet sich die Verweigerung von Aussagen nach den Bestimmungen der StPO6, in Militärstrafverfahren nach den Bestimmungen des Militärstrafprozesses vom 23. März 19797.
1 Die Zeugenschutzstelle kann von öffentlichen Stellen und von Privaten verlangen, dass diese bestimmte Daten der zu schützenden Person nicht bekanntgeben, soweit die bestehenden technischen Möglichkeiten dies erlauben.
2 Derart angegangene öffentliche Stellen und Private haben bei ihrer Datenbearbeitung sicherzustellen, dass der Zeugenschutz nicht beeinträchtigt wird.
1 Von der Zeugenschutzstelle angegangene öffentliche Stellen und Private teilen dieser festgestellte Ersuchen um Auskunft über die zu schützende Person unverzüglich mit.
2 Bestehen bei automatisierten Informationssystemen Abfrageprotokolle, so sind der Zeugenschutzstelle auf deren Verlangen Auszüge auszuhändigen, die Abfragen zu der zu schützenden Person dokumentieren.
3 Die Zeugenschutzstelle kann die Mitteilungs- und die Aushändigungspflicht ausdehnen auf Auskunftsersuchen und Abfragen über Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zeugenschutzstelle.
1 Die Zeugenschutzstelle kann zum Aufbau oder zur Aufrechterhaltung einer vorübergehenden neuen Identität für eine zu schützende Person von öffentlichen Stellen und von Privaten verlangen:
2 Die Zeugenschutzstelle berücksichtigt öffentliche Interessen oder schutzwürdigen Interessen Dritter.
3 Wird die neue Identität aufgehoben, so sorgt die Zeugenschutzstelle in Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen und Privaten dafür, dass die neuen Einträge mit den Einträgen der ursprünglichen Identität zusammengeführt und anschliessend gelöscht werden.
4 Der Aufbau einer vorübergehenden neuen Identität ist für den erforderlichen Zeitraum auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zeugenschutzstelle zulässig.
Die zuständige Behörde hört die Zeugenschutzstelle an, bevor sie gegenüber einer zu schützenden Person:
9 Der Titel wurde in Anwendung von Art. 12 Abs. 2 des Publikationsgesetzes vom 18. Juni 2004 (SR 170.512) auf den 1. Jan. 2019 angepasst. Diese Anpassung wurde im ganzen Text vorgenommen.
Die Zeugenschutzstelle trifft Entscheidungen, die Auswirkungen auf die Art und den Ort des Vollzugs einer die zu schützende Person betreffenden Untersuchungshaft, Sicherheitshaft, Freiheitsstrafe oder einer sonstigen freiheitsentziehenden Massnahme haben, nach Rücksprache mit den zuständigen Strafvollzugsbehörden.
1 Der Bund richtet zum Zweck des Zeugenschutzes nach diesem Gesetz eine Zeugenschutzstelle ein.
2 Die Zeugenschutzstelle ist fedpol unterstellt. Sie ist personell und organisatorisch von den Einheiten zu trennen, die Ermittlungen führen.
1 Die Zeugenschutzstelle erfüllt die folgenden Aufgaben:
2 Der Bundesrat regelt die Ausbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zeugenschutzstelle.
10 SR 312.0
1 Die Zeugenschutzstelle führt die Akten so, dass diese jederzeit eine vollständige und genaue Übersicht über die im Zusammenhang mit dem Zeugenschutz getroffenen Entscheidungen und Massnahmen ermöglichen.
2 Die Akten unterliegen der Geheimhaltung. Sie sind nicht Bestandteil der Akten des Strafverfahrens.
3 Das Öffentlichkeitsgesetz vom 17. Dezember 200411 ist nicht anwendbar auf Akten, welche sich auf die Durchführung von Zeugenschutzprogrammen beziehen.
11 SR 152.3
1 Die Zeugenschutzstelle betreibt zur Erfüllung ihrer Aufgaben ein Informationssystem.
2 Das System enthält diejenigen Personendaten, welche die Zeugenschutzstelle zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach diesem Gesetz benötigt.
3 Es ist nicht mit anderen Systemen verbunden.
4 Die Datenbearbeitung erfolgt ausschliesslich durch die für den Zeugenschutz zuständige Organisationseinheit von fedpol.
5 Der Bundesrat legt für das System fest:
1 Das Informationssystem enthält Daten, welche die Zeugenschutzstelle zur Prüfung der Eignung einer Person für ein Zeugenschutzprogramm sowie zur Übersicht über die persönlichen und die vermögensrechtlichen Verhältnisse der zu schützenden Person benötigt, insbesondere über:
2 Es enthält überdies Daten nach Absatz 1 über die mutmassliche gefährdende Person und über deren Umfeld, welche die Zeugenschutzstelle zur Abklärung der Gefährdungslage benötigt.
1 Die Zeugenschutzstelle kann die nach Artikel 26 benötigten Daten wie folgt beschaffen:
2 Die Beschaffung und die Mitteilung von Daten nach Absatz 1 zugunsten der Zeugenschutzstelle werden nicht in Rechnung gestellt.
1 fedpol kann eine zu schützende Person ans Ausland übergeben oder eine zu schützende Person vom Ausland übernehmen, wenn:
2 Für die Übernahme einer Person holt fedpol vorgängig die Zustimmung der für die Aufenthaltsregelung zuständigen Behörde ein.
1 Die Kosten bei einer Übergabe oder Übernahme nach Artikel 28 sind nach den folgenden Grundsätzen aufzuteilen:
2 Ausnahmsweise kann im Einzelfall auch der Personalaufwand von der ersuchenden Zeugenschutzstelle getragen werden, sofern die andere Seite Gegenrecht hält.
3 Vorbehalten bleiben Kostenvereinbarungen mit einer zuständigen Stelle des Auslands oder eines internationalen Strafgerichts gestützt auf einen Staatsvertrag.
1 Wer aufgrund seiner Mitwirkung im Zeugenschutzprogramm Kenntnisse über eine zu schützende Person oder über Zeugenschutzmassnahmen erlangt, darf diese Kenntnisse nicht ohne Zustimmung der Zeugenschutzstelle offenbaren.
2 Die Zeugenschutzstelle informiert die mitwirkenden Personen über ihre Schweigepflicht.
3 Die zu schützende Person darf Kenntnisse über die sie betreffenden Zeugenschutzmassnahmen oder über die sie betreuenden Personen nicht ohne Zustimmung der Zeugenschutzstelle offenbaren.
1 Wer die Schweigepflicht nach Artikel 30 dieses Gesetzes verletzt, wird mit einer Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft, sofern nicht ein mit einer höheren Strafe bedrohtes Verbrechen oder Vergehen des Strafgesetzbuches12 vorliegt.
2 Das unbefugte Offenbaren von Personendaten oder von Kenntnissen über Zeugenschutzmassnahmen ist auch nach Beendigung der Tätigkeit, bei welcher die Daten anvertraut wurden, strafbar.
12 SR 311.0
1 Die Zeugenschutzstelle erstattet der Vorsteherin oder dem Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) jährlich Bericht über ihre Tätigkeit.
2 Die Berichterstattung umfasst namentlich Angaben über:
1 Personen, die im Rahmen der Oberaufsicht der eidgenössischen Räte nach dem Parlamentsgesetz vom 13. Dezember 200213 oder der Aufsicht des Bundesrates oder des EJPD nach dem Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 199714 mit der Einholung von Auskünften oder mit einer Inspektion betraut sind, dürfen die erlangten Informationen nur in allgemeiner und anonymisierter Form als Grundlage für ihre Berichterstattung und ihre Empfehlungen verwenden.
2 Die Zeugenschutzstelle trifft geeignete Massnahmen, damit der Zweck der Oberaufsicht erfüllt werden kann, ohne dass Informationen offengelegt werden müssen, die Aufschluss geben über den gegenwärtigen Aufenthaltsort einer zu schützenden Person oder über die von ihr benutzte Identität.
13 SR 171.10
14 SR 172.010
1 Die Lebenshaltungskosten der zu schützenden Person sowie die laufenden Kosten für die Zeugenschutzmassnahmen im Rahmen von Zeugenschutzprogrammen nach diesem Gesetz trägt der antragstellende Bund oder Kanton.
2 …15
3 Der Bundesrat vereinbart mit den Kantonen die Aufteilung der Betriebskosten.16
15 Aufgehoben durch Ziff. I 7 des BG vom 25. Sept. 2020 über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, mit Wirkung seit 1. Juni 2022 (AS 2021 565; 2022 300; BBl 2019 4751).
16 Fassung gemäss Ziff. I 7 des BG vom 25. Sept. 2020 über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, in Kraft seit 1. Juni 2022 (AS 2021 565; 2022 300; BBl 2019 4751).
1 Die Kantone vergüten dem Bund umfangreiche Beratungs- und Unterstützungsleistungen im Sinne von Artikel 23 Absatz 1 Buchstabe e.
2 Der Bundesrat bestimmt die zu vergütenden Leistungen sowie die Höhe und die Modalitäten ihrer Vergütung.
Die Änderung bisherigen Rechts ist im Anhang geregelt.
Datum des Inkrafttreten: 1. Januar 201317
17 BRB vom 7. Nov. 2012 (AS 2012 6713)
(Art. 36)
Die nachstehenden Bundesgesetze werden wie folgt geändert:
…18
18 Die Änderungen können unter AS 2012 6715 konsultiert werden.